Einfaches Leben
Griechenland 1981–1982
»Man muss sich beeilen, wenn man etwas sehen will, alles verschwindet…«
— Paul Cezanne, 1879
Ein Jahr in der Ägäis
Nach dem Abitur studierte ich in München Publizistik und Literaturwissenschaft. Ich schrieb meine Seminararbeiten und bereitete mich auf die Prüfungen vor. Als ich 1981 zum ersten Mal die Kykladen bereiste, war mir noch nicht klar, dass von nun an Fotografie zum zentralen Inhalt meines Lebens werden sollte: Viele Generationen hatten die Kykladen ausgeplündert, sie ihrer Bäume beraubt, die dünne Ackerkrume der Sonne und dem Wind ausgeliefert. Übrig blieb der nackte Fels. Die Kykladen waren schön, aber arm. So unerbittlich karg waren sie, dass hier nur existieren konnte, wer sich unterwarf. Die Landschaft diktierte die Bedingungen, der Mensch musste sie akzeptieren.
Meine Begegnung mit dieser Landschaft, eine immer ausgeprägtere Zuneigung zu dem schlichten und »einfachen Leben« der Inselbewohner beeindruckten mich so stark, dass ich ein Jahr blieb. Was ich sah, war bitterste Armut und Einsamkeit, aber auch Zufriedenheit, Wärme und Heiterkeit, waren sterbende Dörfer, bewohnt von alten Leuten, die zurückblieben, während ihre Kinder fremden Einflüssen und Versprechungen in Athen oder im Ausland nachjagten. Es war eine Welt, die so ganz anders funktionierte als die eigene: Grausam und traurig, aber auch einfach und großartig.
Als ich wenig später die ersten Bilder in der Dunkelkammer entwickelte, wurde mir klar, dass ich mein Lebensthema gefunden hatte. Die Bilder, die ich gemacht hatte, zeigten die Fotografierten in all ihrer Vertrautheit. Zur Vertrautheit gehört aber, dass man Zeit zur Verfügung hat und man von Zeitlosigkeit erfüllte Augenblicke nicht unter Zeitdruck erstellen kann. Auf so etwas hatten die deutschen Bildredaktionen 1982 nur gewartet. Innerhalb von Tagen hatte ich einen Buchvertrag, viertausend D-Mark von der Zeitschrift »Merian« für den Vorabdruck und meinen ersten Auftrag vom »stern«.
Tagebuch – Chora Amorgos im April
Ich habe angefangen zu fotografieren. Zunächst zögernd, auf meinen ziellosen Wanderungen durch die engen Gassen des Dorfes. Immer wieder führen tunnelähnliche Durchgänge von einer Straße zur anderen. Oft münden die Gassen auf einen menschenleeren Platz. Die Menschen, denen ich flüchtig begegne, gleichen eher Phantomen, die dieses Dorf bevölkern und ihm kein wirkliches Leben mehr geben können. Viele Häuser stehen verlassen, verrostete Türklopfer, von keiner Hand mehr in Bewegung gesetzt, überwachsene Schwellen, die kein Fuß mehr betritt, geschlossene Fensterläden, hinter denen man Leere vermutet.
Tagebuch – Appolonia, Milos im Mai
Der Überlebenskampf der armen und mittellosen Fischer auf den Inseln wird von Jahr zu Jahr härter, seit die Fangflotten aus Pyräus bis in die seit Generationen überlieferten Fischgründe der Inselbewohner eindringen und seitdem sich die gesetzlich verbotene Methode der Dynamitfischerei immer stärker ausbreitete. Zunächst waren es nur Einzelne, die von der Fangmethode Gebrauch machten. Es bedurfte nur eines Keschers, um die von der Druckwelle mit zerplatzter Schwimmblase auftreibenden Fische einzusammeln. Gedanken, dass die Druckwelle die Brut und den Biotop zerstörte, waren niemandem gekommen.
Tagebuch – Amorgos, im April
Sobald ich das Kloster durch die winzige Pforte betrete, spüre ich die angenehme und erfrischende Kühle des schattigen Treppenhauses. Noch halbblind von der grellen Helligkeit gewöhne ich mich erst allmählich an das dämmerige Dunkel. In einem weiten Korridor hockt auf einer Steinbank ein alter Mönch und raucht eine Zigarette. Bei seinem Anblick verwischt sich bei mir jegliches Zeitgefühl. Ich hätte das Kloster ebenso gut vor 500 Jahren betreten können und zweifellos hätte der Mönch ohne jede Korrektur seiner äußeren Erscheinung mühelos in diese frühe Epoche hineingepasst, wobei sein biblisches Alter von 92 Jahren ihn tatsächlich dem vorigen Jahrhundert zuordnet. Das schlohweiße, ungebundene und schulterlange Haar sowie der mächtige Bart umrahmen ein zerfurchtes Runzelgesicht mit ungewöhnlich lebendigen Augen, die mir sofort sympathisch sind.
»Der alte Georgios liegt im Sterben; seine Frau sitzt neben dem Bett, die Hand auf seiner Stirn. Die letzten Minuten, die ein Mann und eine Frau zusammen verbringen, die ein Leben lang zusammen gelebt haben. Eine Szene, die privater, intimer nicht sein könnte. Solche Bilder gelingen nur dem, der die Kunst der Bescheidenheit beherrscht.«
— Eberhard Grames, aus »Einfaches Leben«, 1987
Tagebuch – Iraklia im Februar
Winter, das heißt endlos lang erscheinende Tage, an denen die Fischer sich mit ihren kleinen Booten nicht auf das unruhige Meer wagen, die Felder und Gärten bestellt sind und es kaum Abwechslung und Arbeit gibt. Kälte, Feuchtigkeit und der „sorrokos“, ein mächtiger Winterwind aus Südosten setzen ein. Winter heißt Krankheit, Tod, Stillstand und Langeweile. Er bringt aber auch den langersehnten und lebensspendenden Regen, der das übrige Jahr fast völlig ausbleibt, und füllt die Zisternen.
»Wir sind dabei, den Typus Mensch, den Hans Madej so verständnisvoll fotografiert hat, zu vergessen. Hans Madej gehört zu jener Handvoll Fotografen, die eine Welt noch einmal festhalten, bevor sie unwiederbringlich verlorengeht.«
— Eberhard Grames, aus »Einfaches Leben«, 1987
Tagebuch – Chora Amorgos im Mai
Als die Glocken zur Abendmesse läuten, beeilt sich Markos, die Rasur zu beenden. Nicht weil er den Gottesdienst besuchen will, sondern weil jeder Laden und jedes Geschäft während der Messe geschlossen sein muss. Auf meine Frage, ob er mich in die Kirche begleitet, antwortet er mit einer wegwerfenden Handbewegung: »Was soll ich dort? Christus wird hier jeden Tag gekreuzigt, daran hat die Kirche nichts geändert. Gott hat uns hier längst vergessen. Wüsste er, dass wir hier leben, schickte er uns mehr Regen und weniger Wind.«
Tagebuch – Chora Amorgos im April
Jeder besitzt seinen Stammplatz hier und der zählt genau so viel wie ein Bett und ein Dach über dem Kopf. Das Kafenion ist der pulsierende Mittelpunkt des Dorflebens, es besitzt die wichtige Funktion einer Nachrichtendrehscheibe und Bühne, auf der sich das Miteinander und Gegeneinander der Dorfbewohner abspielt und das noch immer zum ausschließlichen Lebensbereich der Männer gehört.
Tagebuch – Chora Folegandros, im Oktober
In dem rußgeschwärzten Raum, nur von einer schummerigen Glühbirne und dem Licht der großen Feuerstelle erhellt, erwarten uns schon in fleckige Lederschürzen gekleidete Arbeiter mit schweißnassen Gesichtern und ölverschmierten Händen. Sie leeren den Inhalt des Blechkanisters in das Steinbett einer primitiven Mühle, deren wuchtiger Mühlstein von einem daran angeschirrten Esel im Kreis bewegt wird. Mit verbundenen Augen trottet das Tier, bleibt stehen, wird mit kräftigen Stockschlägen und Zurufen angetrieben und dreht wieder den Mühlstein, der die unentkernten Oliven allmählich zu einem Brei zerpresst.
Tagebuch – Amorgos, im April
In manchen Bäumen hängen Hammel und Lämmer, blutig aufgetan, gehäutet und ausgenommen und torkeln im Wind gegeneinander. Während die Männer den Vormittag auf den Feldern verbringen und sorgfältig aus ihren Schafen und Ziegen die Tiere bestimmen, die für das österliche Festessen geschlachtet werden, besorgen die Frauen und Kinder das Eierfärben und das Herstellen des Ostergebäcks. Häuser und Gehwege werden frisch gekalkt, das zwischen den Steinplatten wuchernde Unkraut gejätet und Türen und Fenster mit Oliven – und Lorbeerzweigen geschmückt. Über dem Dorf liegt eine feierliche Ruhe. Das Osterfest unterbricht für eine Woche das Alltagsdasein und den gewohnten Tagesablauf.
»Madej leistet sich den Luxus, Zeit zu haben für die Menschen, die er fotografieren will. Seine Arbeitsweise ist antiquiert und auf bewundernswerte Weise unprofessionell. Und gerade weil er so altmodisch arbeitet, ist seine Fotografie so stark.«
— Eberhard Grames, aus »Einfaches Leben«, 1987