Roma
Ein Volk aus anderer Zeit 1991–1993
»Von weitem ist der Zigeuner ein Mensch.«
— Rumänische Redewendung
Der Staub ist blind – die Sonne ein Krüppel
Überall gibt es noch Ärmere. Parias, die am Rande der sozialistischen Stadtsimulationen leben. Die in dem wenigen Müll wühlen, den Gesellschaften anhäufen, die selbst im Mangel leben. Die Untersten der Unteren, die Erniedrigten unter den Erniedrigten, die Roma.
1991 bekam ich einen Anruf von einer renommierten Redaktion. Ich sollte eine Geschichte zur Situation der Zigeuner in Rumänien mit der späteren Nobelpreisträgerin für Literatur, Herta Müller, fotografieren. Getrennt fuhren wir los.
Wochen später erhielt ich ihren Text und einen Anruf von ihr. Aufgebracht informierte sie mich, dass sie ihren Text zurückgezogen und unsere Geschichte nicht gedruckt wird. »Sie wollten die Geschichte im Sommer veröffentlichen« sagte sie aufgebracht und man habe sie deshalb gebeten, die Winterszene eines Pogroms an den Zigeunern in den Sommer zu verlegen.
«Es macht aber einen Riesenunterschied für mich, ob man jemandem im Winter oder im Sommer das Dach überm Kopf abfackelt,« meinte sie empört.
Die Bilder wurden nie gedruckt, ihren Text veröffentlichte Herta Müller 1995 in dem Essayband »Hunger und Seide« unter dem Titel »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«. Ich selbst erweiterte die Zigeunergeschichte aus Rumänien auf die anderen Länder des Ostens. Mehr als fünf Millionen Zigeuner lebten damals dort. Eine Realität hinter dem Eisernen Vorhang.
Die Befreiung der Balkanländer hatte die uralten Vorurteile wieder freigesetzt, machte die Zigeuner zu den Opfern der Revolution. Denn Freiheit ist auch immer die Freiheit zu Hass und Ungerechtigkeit. Die Zigeuner leben anders – und waren und sind deswegen prädestinierte Sündenböcke etwa in einem Land wie Rumänien.
»Die großen Augen der Kinder, die barfuß durchs Gestrüpp laufen, zeigen Erkältung und Krankheit. Es ist der Sprung, den äußerste Armut über die Kindheit macht. Kinder schleppen kleinere Geschwister. Sie tragen Menschen und müssten selber noch getragen werden«.
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991
»Das Mädchen, das den kleineren Bruder trägt, sucht mit einem großen, nassen Auge über der kleineren Schulter den Weg. Die Verantwortung, die das Mädchen beim Tragen übernimmt, überfordert den Blick des Fremden.
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991
»Unter dem Titel »Hochzeitsbräuche« stehen Sätze hintereinander, von denen jeder für sich reichen würde, um beim Lesen zu erschrecken: Ein reicher Mann darf eine arme Frau heiraten, nicht umgekehrt. Die Frau wird nach der Hochzeit der Schwiegermutter übergeben. Frauen dürfen nur reden, wenn sie gefragt werden. Frauen dürfen bei der Hochzeit nicht an den Tischen der Männer essen, sondern in Hinterräumen, wo sie von den Männern nicht gesehen werden.«
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991
«Viele Zigeuner, die Armut hinter sich gelassen haben, verleugnen ihre Identität. Die Demütigungen hängen am früheren Leben. Sie wissen, dass diese Verleugnung der einzige Weg des Ausbruchs aus der Armut ist. Schaffen sie ihn, als Tischler, Schlosser, Heizer, zeigen sie ihren Stolz. Ein alter Mann, der Tischler war, der seit Jahren in Rente ist, sagt: »Mir kommt kein Zigeuner ins Haus.«
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991
»Zigeuner gehörten jeden Sommer für einige Tage in die fremden Dörfer, gingen von Haus zu Haus, wurden mit Essen bezahlt und durften in den Ställen übernachten. An den Feiertagen gingen sie auf Stelzen, spielten Violine und Akkordeon und führten tanzende Bären oder Affen durch die Straßen. Sie brachten Glück, das brauchte man.«
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991
»In den sechziger Jahren wurde das Umherziehen der Zigeuner verboten. Sie hatten einen Stempel im Ausweis, den Namen eines Ortes. Diesen Ort durften sie nicht verlassen. Die aufgezwungene Sesshaftigkeit entzog den ziehenden Handwerkern und Händlern die Identität – und die Lebensgrundlage. Sie wurde nicht zur Verwurzelung, nur zum Zwang. Die Verelendung war vorprogrammiert.«
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991
»Die Armut verdoppelt sich jenseits der Türschwelle, die oft die Schwelle zur Hütte im Nichts, zum flatternden Tuch am Planwagen ist. Was den Armen an Besitz fehlt, wird, da man es ihnen ansieht, auf den Straßen, in den Dörfern und Städten im Land als Verachtung gestraft. Die Diskriminierung gehört zum Alltag, sie ist der Alltag der Zigeuner in Rumänien. Zigeuner »vermehren sich wie die Ratten« sagen Rumänen.
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991
»Die Hütten, die wenigen Gegenstände entlassen die Zigeuner leicht. Eine Hausnummer oder ein Schlüsselbund können ihr Leben nicht bestimmen. Man hat, wenn man geht, nicht viel mehr als sich selbst. Und nackten Boden gibt es überall.«
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991
Pogrom
Am anderen Ende des Landes im Osten liegt das Dorf Kogalniceanu am Schwarzen Meer. Der Dorfpolizist sagt: »Die Zigeuner und die Bürokraten drücken dieses Land aus der Zivilisation hinaus.« Zwei Wochen davor, am 9. November, gab es in diesem Dorf ein Pogrom. Dreißig Häuser am Dorfrand wurden angezündet, hundertfünfzig Zigeuner wurden obdachlos.
Eine Frau sitzt im Zimmer, auf dessen Tür »Standesamt« steht. »Pogrom war das nicht«, sagt sie, »das war, dass sich ehrliche Bewohner gegen kriminelle Zigeuner gewehrt haben. Das war kein Ethnozid«. Das Wort klingt fremd in ihrem Bauerngesicht. Sie hat Mühe, es auszusprechen, bewegt ihre Lippen im Auftrag der Behörde. »Die haben gestohlen und vergewaltigt, achtzigjährige Frauen vergewaltigt. Da musste was geschehen, und das ist geschehen.«
Im Dorf leben Mazedonier, Türken, Tataren, Armenier, Zigeuner und Rumänen. Die Brandstiftung war eine organisierte Aktion. Im Dorf läuteten die Glocken, während eine Horde mitten durchs Dorf an den Dorfrand zog. Neben der johlenden Menge fuhren zwei Traktoren. Der eine mit einem Tank Dieselöl, der andere mit einem Anhänger Strohballen. Das Dieselöl war vom nahe gelegenen Flughafen »besorgt« worden.
Es war zwanzig Uhr und schon dunkel. Die Häuser der Zigeuner wurden geplündert. Dann die Strohballen mit Öl getränkt, in die Häuser getragen und angezündet. Die Flammen fraßen alles, was in den Häusern stand, auch die Wände. Die Dächer stürzten. Auch die Autos und die Tiere in den Höfen brannten. Die Flammen schlugen in den dunklen Himmel. Die Zigeuner saßen hinter dem kahlen Feld im Wald. Sie sahen zu und hatten nichts als das, was sie auf der Haut trugen, und Angst. Angst, dass man die Kinder übers Feld hin weinen hört. Das Feuer und die zusammenkrachenden Wände waren jedoch lauter.
»Ich bin mit dem Wort »Roma« nach Rumänien gefahren, habe es in den Gesprächen anfangs benutzt und bin damit überall auf Unverständnis gestoßen. »Das Wort ist scheinheilig«, hat man mir gesagt, »wir sind Zigeuner und das Wort ist gut, wenn man uns gut behandelt«.
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991
»Zigeuner bauen, da wo sie leben, keine eigenen Kirchen und Friedhöfe. Sie gehen in die Kirchen der anderen, werden in diesen Kirchen getauft. Ihre Toten liegen auf den Friedhöfen der Dörfer.«
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991