Roma

Ein Volk aus anderer Zeit 1991–1993

»Von weitem ist der Zigeuner ein Mensch.«
— Rumänische Redewendung

Eine illegal erbaute Siedlung der Roma und das letzte Dorf ohne Stromanschluss in der Slowakei. Als einziger Staatsmann im »neuen« Osten war es Vaclav Havel, der demonstrativ den Roma Unterstützung und Solidarität zukommen ließ: Kurz nach seinem Amtsantritt besuchte er Letahovce und versprach den Bewohnern Strom. Er hatte die Hilfsbereitschaft der Roma im Gefängnis kennengelernt. — Slowakei, Letahovce, Juni 1993

Der Staub ist blind – die Sonne ein Krüppel

Überall gibt es noch Ärmere. Parias, die am Rande der sozialistischen Stadtsimulationen leben. Die in dem wenigen Müll wühlen, den Gesellschaften anhäufen, die selbst im Mangel leben. Die Untersten der Unteren, die Erniedrigten unter den Erniedrigten, die Roma.

1991 bekam ich einen Anruf von einer renommierten Redaktion. Ich sollte eine Geschichte zur Situation der Zigeuner in Rumänien mit der späteren Nobelpreisträgerin für Literatur, Herta Müller, fotografieren. Getrennt fuhren wir los.

Wochen später erhielt ich ihren Text und einen Anruf von ihr. Aufgebracht informierte sie mich, dass sie ihren Text zurückgezogen und unsere Geschichte nicht gedruckt wird. »Sie wollten die Geschichte im Sommer veröffentlichen« sagte sie aufgebracht und man habe sie deshalb gebeten, die Winterszene eines Pogroms an den Zigeunern in den Sommer zu verlegen.

«Es macht aber einen Riesenunterschied für mich, ob man jemandem im Winter oder im Sommer das Dach überm Kopf abfackelt,« meinte sie empört.

Die Bilder wurden nie gedruckt, ihren Text veröffentlichte Herta Müller 1995 in dem Essayband »Hunger und Seide« unter dem Titel »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«. Ich selbst erweiterte die Zigeunergeschichte aus Rumänien auf die anderen Länder des Ostens. Mehr als fünf Millionen Zigeuner lebten damals dort. Eine Realität hinter dem Eisernen Vorhang.

Die Befreiung der Balkanländer hatte die uralten Vorurteile wieder freigesetzt, machte die Zigeuner zu den Opfern der Revolution. Denn Freiheit ist auch immer die Freiheit zu Hass und Ungerechtigkeit. Die Zigeuner leben anders – und waren und sind deswegen prädestinierte Sündenböcke etwa in einem Land wie Rumänien.

Zigeunerkinder in der Rußstadt Copsa Mica. Die tiefste Finsternis sei nach dem Tode des Diktators vorbei, hieß es. Aber es will und will nicht Tag werden in Rumänien. — Rumänien, Copsa Mica, Juni 1991

»Die großen Augen der Kinder, die barfuß durchs Gestrüpp laufen, zeigen Erkältung und Krankheit. Es ist der Sprung, den äußerste Armut über die Kindheit macht. Kinder schleppen kleinere Geschwister. Sie tragen Menschen und müssten selber noch getragen werden«.
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991

Zigeunerkinder in Betvolva. Die Roma haben die höchste Analphabetenquote in Rumänien und die höchste Kindersterblichkeit. Niedrig ist nur die Lebenerwartung. — Rumänien, Betvolva, Juni 1991

»Das Mädchen, das den kleineren Bruder trägt, sucht mit einem großen, nassen Auge über der kleineren Schulter den Weg. Die Verantwortung, die das Mädchen beim Tragen übernimmt, überfordert den Blick des Fremden.
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991

Mit zehn Jahren werden Mädchen oft von den Eltern für Geld an den zukünftigen Mann verkauft. Niemand fragt nach den Gefühlen hinter der viel zu jungen Stirn. — Ungarn, Budapest, Juli 1992

»Unter dem Titel »Hochzeitsbräuche« stehen Sätze hintereinander, von denen jeder für sich reichen würde, um beim Lesen zu erschrecken: Ein reicher Mann darf eine arme Frau heiraten, nicht umgekehrt. Die Frau wird nach der Hochzeit der Schwiegermutter übergeben. Frauen dürfen nur reden, wenn sie gefragt werden. Frauen dürfen bei der Hochzeit nicht an den Tischen der Männer essen, sondern in Hinterräumen, wo sie von den Männern nicht gesehen werden.«
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991

Not lehrt Feiern. In Sutka bei Skopje leben über 20 000 Roma moslemischen Glaubens. Fast jeden zweiten Tag ist Hochzeit, und jede dauert mindestens zwei Tage. Und zwei Nächte. In Sutka drehte Emir Kusturica weite Teile seines bejubelten Films »Die Zeit der Zigeuner«. — Mazedonien, Sutka, September 1991

Das Fest ist das Gegenstück zum alltäglichen Gleichmaß. Ohne das Fest, und sei es auch noch so bescheiden, ist den Zigeunern das Leben unerträglich. — Slowakei, Rudnany, Juni 1993

Zum Feiern ist Raum in der kleinsten Hütte im grauen Budapester Alltag. Es wird getanzt und gesungen und niemanden stört, dass der Tanzsaal nur 15 Quadratmeter misst. Die siebenköpfige Romafamilie, die nach Budapest gekommen ist, um Arbeit zu suchen, feiert eine Taufe. — Ungarn, Budapest, Juni 1992

«Viele Zigeuner, die Armut hinter sich gelassen haben, verleugnen ihre Identität. Die Demütigungen hängen am früheren Leben. Sie wissen, dass diese Verleugnung der einzige Weg des Ausbruchs aus der Armut ist. Schaffen sie ihn, als Tischler, Schlosser, Heizer, zeigen sie ihren Stolz. Ein alter Mann, der Tischler war, der seit Jahren in Rente ist, sagt: »Mir kommt kein Zigeuner ins Haus.«
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991

»Zigeunerball« im Hotel Hilton in Budapest. Viele Zigeuner, die die Armut hinter sich gelassen haben, verleugnen ihre Identität. Sie wissen, dass diese Verleugnung der einzige Weg des Ausbruchs aus der Armut ist. — Ungarn, Budapest, Juli 1992

Wenn Hochzeit ist, dann werden die Zigeuner geholt. Sie pressen eine diabolische Musik aus ihren Tröten und schlagen die Trommeln wie die Derwische. Zum Dank klebt man ihnen Geldscheine auf die Stirn. — Bulgarien, Pletena, Februar 1992

»Zigeuner gehörten jeden Sommer für einige Tage in die fremden Dörfer, gingen von Haus zu Haus, wurden mit Essen bezahlt und durften in den Ställen übernachten. An den Feiertagen gingen sie auf Stelzen, spielten Violine und Akkordeon und führten tanzende Bären oder Affen durch die Straßen. Sie brachten Glück, das brauchte man.«
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991

In Budapest: Der Roma-Vater hat sein Geld versoffen, Frau und Tochter schauen nach, ob sich nicht doch noch ein Forint-Scheinchen in den Stiefeln finden lässt. — Ungarn, Budapest, April 1992

Die Zigeunerkinder wachsen in dem »schwarzen Dorf« auf. So nennen die Leute Copsa Mica, weil der Ruß aus den alten Kombinaten hier alles bedeckt: die Häuser, die Felder, selbst Hände und Gesichter. — Rumänien, Copsa Mica, Juni 1991

»In den sechziger Jahren wurde das Umherziehen der Zigeuner verboten. Sie hatten einen Stempel im Ausweis, den Namen eines Ortes. Diesen Ort durften sie nicht verlassen. Die aufgezwungene Sesshaftigkeit entzog den ziehenden Handwerkern und Händlern die Identität – und die Lebensgrundlage. Sie wurde nicht zur Verwurzelung, nur zum Zwang. Die Verelendung war vorprogrammiert.«
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991

Ein Drittel der europäischen Zigeuner lebt in Rumänien: rund drei Millionen. Zusammen mit den Ungarn die größte Minderheit des Landes. Ceausescu pferchte einen großen Teil des fahrenden Volkes in Wohnsilos. — Rumänien, Betesti, Februar 1991

Ein Fernsehapparat für ein ganzes Dorf, ein Raum, der abends zur pulsierenden Drehscheibe wird, wenn sich die Zigeuner zu den Abendnachrichten hier versammeln. — Slowakei, Rudnany, Juni 1993

Die Familie ist arbeitslos, seit die Metallfabrik geschlossen wurde. In der Hütte glänzt nur das Saxophon – Inbegriff und Versprechen des Westens. — Slowakei, Rudnany, Juni 1993

»Die Armut verdoppelt sich jenseits der Türschwelle, die oft die Schwelle zur Hütte im Nichts, zum flatternden Tuch am Planwagen ist. Was den Armen an Besitz fehlt, wird, da man es ihnen ansieht, auf den Straßen, in den Dörfern und Städten im Land als Verachtung gestraft. Die Diskriminierung gehört zum Alltag, sie ist der Alltag der Zigeuner in Rumänien. Zigeuner »vermehren sich wie die Ratten« sagen Rumänen.
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991

Ganz unten. Zigeunerkinder suchen auf einer schwelenden Müllkippe nach Verwertbarem. Die Roma sind die Opfer der Wende im Osten. Vom Anspruch »Wir sind das Volk« blieben sie ausgeschlossen. — Rumänien, Medias. November 1991

Zigeunersippe in Betesti. Die Familie ist arbeitslos, seit die Kolchose geschlossen wurde. In der Lehmhütte gibt es keinen Strom, kein Wasser, keine Möbel. — Rumänien, Betesti, Februar 1991

Zigeunerkinder in der Rußstadt Copsa Mica. Ihre Eltern arbeiten im Kombinat. Ihnen blieb von der sozialistischen Industrialisierung nur die allerunterste Arbeit: das Abfüllen von Ruß in der dreckigsten und schwärzesten aller schwarzen Städte Rumäniens, in Copsa Mica. — Rumänien, Copsa Mica, Februar 1992

Der einzige Ausweg aus der Verelendung bleibt nur zu oft die Kriminalität - »self-fullfilling prophecy« nennen es die Soziologen. In Rudnany lebt man vom Verkauf von Kupfer und Eisen, gestohlene Ware aus den umliegenden Fabriken. Um den Zugriff der Polizei auf dem Schwarzmarkt abzuwenden, werden diese bestochen. Am Ende steht oft das Gefängnis. — Slowakei, Rudnany, Juni 1993

»Die Hütten, die wenigen Gegenstände entlassen die Zigeuner leicht. Eine Hausnummer oder ein Schlüsselbund können ihr Leben nicht bestimmen. Man hat, wenn man geht, nicht viel mehr als sich selbst. Und nackten Boden gibt es überall.«
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991

Der Bulibascha von Rudnany. Jedes Dorf und jede Zigeunersippe hat ihren Bulibascha, einen anerkannten und gewählten Zigeunerführer. — Slowakei, Rudnany, Juni 1993

Pogrom

Am anderen Ende des Landes im Osten liegt das Dorf Kogalniceanu am Schwarzen Meer. Der Dorfpolizist sagt: »Die Zigeuner und die Bürokraten drücken dieses Land aus der Zivilisation hinaus.« Zwei Wochen davor, am 9. November, gab es in diesem Dorf ein Pogrom. Dreißig Häuser am Dorfrand wurden angezündet, hundertfünfzig Zigeuner wurden obdachlos.

Eine Frau sitzt im Zimmer, auf dessen Tür »Standesamt« steht. »Pogrom war das nicht«, sagt sie, »das war, dass sich ehrliche Bewohner gegen kriminelle Zigeuner gewehrt haben. Das war kein Ethnozid«. Das Wort klingt fremd in ihrem Bauerngesicht. Sie hat Mühe, es auszusprechen, bewegt ihre Lippen im Auftrag der Behörde. »Die haben gestohlen und vergewaltigt, achtzigjährige Frauen vergewaltigt. Da musste was geschehen, und das ist geschehen.«

Im Dorf leben Mazedonier, Türken, Tataren, Armenier, Zigeuner und Rumänen. Die Brandstiftung war eine organisierte Aktion. Im Dorf läuteten die Glocken, während eine Horde mitten durchs Dorf an den Dorfrand zog. Neben der johlenden Menge fuhren zwei Traktoren. Der eine mit einem Tank Dieselöl, der andere mit einem Anhänger Strohballen. Das Dieselöl war vom nahe gelegenen Flughafen »besorgt« worden.

Es war zwanzig Uhr und schon dunkel. Die Häuser der Zigeuner wurden geplündert. Dann die Strohballen mit Öl getränkt, in die Häuser getragen und angezündet. Die Flammen fraßen alles, was in den Häusern stand, auch die Wände. Die Dächer stürzten. Auch die Autos und die Tiere in den Höfen brannten. Die Flammen schlugen in den dunklen Himmel. Die Zigeuner saßen hinter dem kahlen Feld im Wald. Sie sahen zu und hatten nichts als das, was sie auf der Haut trugen, und Angst. Angst, dass man die Kinder übers Feld hin weinen hört. Das Feuer und die zusammenkrachenden Wände waren jedoch lauter.

Die Diskriminierung der Zigeuner gehört zum Alltag, sie ist der Alltag der Zigeuner in Rumänien. »Zigeuner vermehren sich wie die Ratten« sagen Rumänen. — Rumänien, Betesti, Februar 1991

»Ich bin mit dem Wort »Roma« nach Rumänien gefahren, habe es in den Gesprächen anfangs benutzt und bin damit überall auf Unverständnis gestoßen. »Das Wort ist scheinheilig«, hat man mir gesagt, »wir sind Zigeuner und das Wort ist gut, wenn man uns gut behandelt«.
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991

Zigeuner im Basarviertel von Korce. Auch in Albanien blicken die Roma auf eine Geschichte der Verfolgung und Unterdrückung zurück. Von Enver Hoxha verleugnet, gab es sie offiziell nicht. — Albanien, Korce, Oktober 1992

Betteln ist seit Jahrhunderten unter Zigeunern ein völlig akzeptierter Weg, »sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen«. Auch Kinder werden an die Straßenecke gesetzt, anstatt in die Schule geschickt. — Rumänien, Bukarest, Februar 1992

»Zigeuner bauen, da wo sie leben, keine eigenen Kirchen und Friedhöfe. Sie gehen in die Kirchen der anderen, werden in diesen Kirchen getauft. Ihre Toten liegen auf den Friedhöfen der Dörfer.«
— Herta Müller, aus »Der Staub ist blind – Die Sonne ein Krüppel«, 1991

Nach altem Brauch der Roma wird der Verstorbene aufgebahrt. Mit offenem Gesicht und dem Sonntagsanzug, dem einzigen des Toten. Die Verwandten nehmen Abschied, der Leichenschmaus erneuert den Bund der Zurückgebliebenen. Geburt und Hochzeit und Tod - der ewige Dreischritt des Lebens. — Slowakei, Hermanovce, Juni 1993